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1
Geächtet von Ihresgleichen, verstoßen von Familie und
Freunden, ohne Rückhalt oder Heim war sie in dieses Land geflohen. Niemand
wollte sie mehr dort haben, wo sie einst aufgewachsen war, wo sie ihre Jugend
verbracht hatte und sowohl die schönsten, als letzten Endes auch die
schrecklichsten Erlebnisse gehabt hatte. Bitter waren die Erinnerungen an ihr
Leben in ihrer einstigen Heimat und doch verspürte sie all die Jahre eine
tiefliegende Sehnsucht, die sie wohl nie mehr befriedigen wird.
Verscheucht hatte man sie, gewaltsam aus dem Dorf geworfen,
was sie schließlich dazu getrieben hatte, in diesem Land nach Hilfe zu suchen.
Hier hatte sie ihre Kinder geboren und mithilfe einer wohlwollenden
Kirchengemeinde einen Neuanfang gestartet. Die furchtbar tiefen Narben ihrer
Flucht, einige unsichtbar, andere so offensichtlich wie die ostpreußischen Züge
ihres Gesichts und der unverändert gebliebene Akzent, waren ihre alltäglichen
Begleiter bis zu ihrem unausweichlichen Tode. Niemandem hatte sie anvertraut,
was ihr in ihrer qualvollsten Zeit widerfahren war. Aus tiefgreifender Scham
und bedauernswerten Schuldgefühlen hatte sie sich nie wieder jemandem nahe
gefühlt und sich in eine seelenzerfressende Einsamkeit zurückgezogen. Kontakt
zu anderen Menschen war nur selten mit dringender Notwendigkeit zulässig, so
dass ihre Kinder nicht einmal die Freuden eines banalen Spielplatzes kennen
lernten.
In ihren letzten Atemzügen begriff sie die Fehler ihrer
zweiten Chance. Das einzige, was ihrem erbärmlichen Leben zuletzt einen Sinn
hätte geben sollen, was ihr von allen überhaupt geblieben war, das hatte sie
mit schmutzigen Füßen getreten. Ihr leidvolles Ende sah sie daher als Gottes
Strafe, der ihr somit sein längst fälliges Urteil kundtat. Die Sünden ihrer
Jugend und die missglückte Reue nachdem ihr zweites Leben begonnen hatte,
wurden ihr an diesem Tag, dem 6.12.1990, zum Verhängnis.
2
Entschlossenen Schrittes ging Rick die hölzerne Treppe
hinauf, die einen weiten Bogen zum Flur des zweiten Stocks vollführte. Fast
stampfend nahm er jede Stufe, als würde er vor einen Gerichtssaal treten, um
sein Urteil in Empfang zu nehmen. Kaum dass er die Kurve erklommen hatte, hörte
er am anderen Ende der Halle, wie die gusseiserne Tür sich wie in Zeitlupe
quietschend öffnete.
Ein junges Mädchen stemmte mit beiden Händen und unter
Einsatz ihres ganzen Körper mit der rechte Schulter voran, die bleischwere Tür
auf und stolperte fast durch den schmalen Spalt, als dieser groß genug war. Der
Schwung, mit der sich die Tür von selbst schloss, hallte dröhnend in der
altmodischen Vorhalle wider.
Der Neuankömmling erhaschte innerhalb eines
suchenden Blickes den stetig voranschreitenden Jungen auf der Treppe, der ihm
nur einen vielsagenden Blick zuwarf, nach dem Nichts ihn von seinem Ziel
abbringen würde. Dennoch begab sie sich sogleich auf seine Fersen und passierte
dabei in der Halle einen weitläufigen Gang mit Rundbögen zwischen den
viereckigen Steinsäulen und einem gemusterten Marmorboden, bis auch sie die
Treppe erreichte.
„Rick, bitte nicht!“, rief sie ihm
verzweifelt zu.
Ohne darauf einzugehen oder auch
nur sichtlich Kenntnis zu nehmen, stieg er im Gleichschritt die Treppe hinauf,
womöglich sogar einen Tick schneller als zuvor.
„Sie werfen dich raus, bitte, lass
es auf sich beruhen. Ich kann hier ohne dich nicht weitermachen, das weißt du.“
Mit eiskalter Schulter verschwand
er in der Schwärze des oberen Korridors, ohne auf seine Verfolgerin Rücksicht
zu nehmen. Diese machte sich nun ebenfalls an den Aufstieg die weitläufigen
Stufen hinauf, bis auch sie das Ende mit heftigen Atemstößen erreichte. Die
stumpfen Schritte von Rick, die er auf dem gemuschelten Teppich hinterließ,
verklangen mit zufallen einer Tür.
Empört über seine Ignoranz hetzte
sie ihm hinterher. Sie kannte sein Ziel genau und vor einer weinroten Tür mit
eingelassenem Buntglasfenster blieb sie besorgt stehen. Sie war zu spät. Er
sprach gerade mit dem Direktor ihres kirchlichen Internats und riskierte sicher
einen Rauswurf. Schwester Riehling hatte ihnen unmissverständlich klar gemacht,
dass sie das Thema als abgehakt betrachtete und jetzt behelligte Rick Pastor
Eddinger mit diesem Unsinn. Der Pastor war der Leiter des kirchlichen
Internats, in dem sie seit 16 Jahren nach dem Tod ihrer Mutter untergebracht
waren. Es sollte keine weiteren Diskussionen mehr über ihre Mutter geben, aber
Rick musste so irrsinnig stur sein. Was machte es für einen Unterschied, ob
ihre Mutter eine Sünderin war oder eine ehrenvolle Frau, wie man ihnen
nachhaltig versichert hatte. Sie jedenfalls wollte sie in guter Erinnerung
behalten, auch wenn sie dazu eben nicht die ganze Wahrheit erfuhr. Ihr
Vertrauen, sowohl in Gott als auch in das Gute eines Menschen genügten ihr
vollkommen.
Aber nein, ihr Bruder hatte
sündhaft gelauscht und dabei mitbekommen, wie die obersten abfällig über ihre
Mutter gesprochen hatten. Nun ließ er keine Ruhe mehr und beharrte auf eine
ehrliche Antwort und nichts, was man ihm erzählte war zufriedenstellend. Schon
zwei Mal war er deshalb verwarnt worden. Statt er einfach glaubte, dass ihre Mutter
eine ehrwürdige, liebevolle Frau war, die einem tragischen Schicksal zum Opfer
fiel.
Er war so töricht, den Leiter des
Hauses zu stören. Man würde ihn rauswerfen, wenn sie nichts unternahm, auch
wenn das hieß, dass sie unhöflicherweise in das Gespräch platzen musste, aber
sie würde nicht zulassen, dass er diese unwiderrufliche Dummheit beging. So
betrat sie entschlossen das Büro des Pastors.
„… störe sie nur ungern, Pastor
Eddinger, doch Schwester Riehling verschweigt mir etwas über meine Mutter und für
den Frieden meiner Seele…“
„Rick, bitte, belästige den Pastor
nicht mit solchen Banalitäten. Entschuldigen Sie, Pastor Eddinger, aber mein
Bruder ist seit unserem 18 Geburtstag sehr betrübt wegen unserer verstorbenen
Mutter. Er hat wohl etwas missverstanden und es drängt ihn seither nach
Klarheit über die Ehrhaftigkeit unserer Mutter. Aber mit ein wenig Zuversicht
in Gott und sich selbst wird er die Kraft finden, vertrauensvoll an unsere
Mutter zu denken, egal was andere sagen mögen. Sie sollte das allerdings
überhaupt nicht stören, bitte entschuldigen sie unser Benehmen.“
„Nein, Julia, ich lasse mir keine
Lügen mehr über unsere Mutter auftischen.“ Rick wandte sich halb zu mir, die
Hände zu Fäusten geballt. „Wir sind jetzt alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.
Gott verurteilt Lügen und Heimlichtuerei, denn ihnen kann nichts Gutes
entspringen, habe ich Recht, Pastor?“
Hinter seinem dunkelweinroten
Mahagonischreibtisch saß der grauhaarige Pastor, ein fettleibiger Mann mit
Schnurrbart, in seinem luxuriösen Lehnsessel aus braunem Leder und beobachtete
die beiden Geschwister ohne die geringste verräterische Regung oder den Verzug
einer Miene. Gelassen setzte er sich nun aufrecht, wobei sein kugelrunder Bauch
an der Tischkannte schabte und schließlich darunter verschwand. Die Hände
ineinander verschränkend, sagte er seelenruhig, aber nicht streng: „Ja, Rick,
das ist eine Wahrheit unseres Glaubens, die vielen nur schwer einzuhalten
fällt. Anscheinend ist euch aber nicht in den Sinn gekommen, dass man euch
mithilfe von unschönen Lügen nur viel unnötiges Leid ersparen wollte. Gott
kennt die Gründe, aus denen Taten entstehen und vermag einzuschätzen, welche
menschliche Schwäche verzeihbar ist, wenn gute Absichten zur Ursache zählen. Die
Frage ist doch, zieht ihr es vor, euch zugetane, wohlsorgende Menschen zu
hintergehen und ihre schützenden Hände mit unreinem Wasser zu waschen? Oder
vertraut ihr auf die weisen, erfahrenen Entscheidungen dieser, die euer Wohl
als höchstes Ziel verstehen?“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis
die Worte ganz zu den Kindern durchgedrungen waren. Dann meinte Julia:
„Entschuldigen Sie, Pastor, wir vertrauen natürlich auf die Weisheit von…“
„Nein Julia. Ich möchte nicht mehr
wie ein Kind beschützt werden. Die Wahrheit ist mir wichtig, schließlich geht
es um unsere Mutter. Wie soll ich ruhig schlafen können, wenn ich in
Ungewissheit über meine Vergangenheit leben muss, obwohl es Leute gibt, die mir
Klarheit verschaffen könnten.“
„Aber ich bin deine Vergangenheit.
Ich bin dein jetzt und will auch deine Zukunft sein, da ist es bedeutungslos,
wie unsere Mutter war. Solange wir zwei nicht getrennt werden, können wir doch
mit einer positiven Vorstellung von unserer Mutter leben. Denn egal wie sie
war, sie hat uns geboren und wird uns geliebt haben.“
„Wie kannst du so ignorant sein?
Ich werde nicht so tun, als wäre unsere Mutter eine Heilige gewesen, wenn ich
daran berechtige Zweifel hegen muss. Wir sind jetzt 18 und da sollten wir mit
der Wahrheit fertig werden können. Selbst, wenn es unsere Vorstellungen von
Grund auf ändert.“
„Na gut, dann mach doch was do
willst. Ich jedenfalls möchte nichts über diese Gerüchte wissen. Es gibt einen
Grund, warum Gott die im Höllenfeuer entstandenen Anschuldigungen missbilligt.“
„Ich bin aber der ältere und ich
möchte Klarheit.“
Entgeistert sah sie ihn mit
verschränkten Armen an. „Du bist nur 5 Minuten älter als ich. Also hör auf über
unser beider Schicksal zu entscheiden.“
Der Leiter des Internats
schmunzelte bei dem Anblick seiner beiden jungen Besucher. „Wie ich sehe, fehlt
euch die weitverbreitete Gabe der Einstimmigkeit unter Zwillingen. Ich stelle
euch frei, selbst zu entscheiden, ob ihr die Geschichte eurer Mutter hören
wollt. Allerdings betrifft es euch gleichermaßen, deswegen müsst ihr euch dazu
einigen. Es wird hier nicht vorkommen, dass eines von Gottes Kindern
rücksichtslos übergangen wird. Doch lasst auch gesagt sein, dass mit dem Wissen
Verantwortung kommt. Einiges wird euch vielleicht nicht gefallen. Dann müsst
ihr das in gutes Umwandeln, anstatt an gottesfremdem Hass oder Schuld
einzugehen. Dieser Weg kann schwierig werden, doch das liegt einzig an euch.“
„Wir wollen die Wahrheit, bitte
Pastor.“, schoss Rick wie aus einer Kanone geschossen.
Zutiefst empört starrte Julia
ihren Zwilling an und zweifelte ernsthaft daran, ihn je verstanden zu haben, je
mit ihm diese besondere Bindung geteilt zu haben. Wie konnte er so problemlos
über ihren Kopf hinweg entscheiden, wo er ihre Meinung doch kannte. Dieses
Thema riss sie total entzwei. Der Pastor hatte Recht, ihre Verbindung war kaum
noch vorhanden. Aber das wollte sie nicht. Rick war ihre ganze Familie, die
andere Seite ihrer Medaille.
„Also Julia, stimmst du dem zu?“,
fragte der Pastor skeptisch, mit angezogener Augenbraue.
Die Tränen, die sich auf ihren
Pupillen bildeten, kamen aus dem innersten ihrer Seele hervor ans Tageslicht
und gaben ihr den Schein eines bedauernswerten Wesens. Ihre wässrigen,
ungläubigen Augen hefteten sich intensiv an ihr Zwillingspaar, aus denen nur
ein strenger, fordernder Anblick zurückkam. Die Konturen ihres Bruders
verschwommen in einem Ausbruch der Verzweiflung, woraufhin sie wild die Tür
aufriss und in den Raum brüllte, er könne doch tun, was er wolle. Dann
verschwand sie mit lauten Schluchzern und einer scheppernden Tür.
3
Ratternd, mit sanften,
schaukelnden Rhythmen fuhr der Zug durch die bewaldete Landschaft, wo hier und
da grüne Wiesen, aber auch kleine Dörfer zu sehen waren. Julia beobachtete seit
geraumer Zeit die trostlose Vegetation aus ihrem Abteilfenster. Sie und ihr
Bruder hatten das Abteil ganz für sich und saßen sich auf den Bänken am Fenster
gegenüber. Rick musterte sie mit seinen durchdringenden Blicken, doch seine
wenig jüngere Gefährtin stand ihm in Nichts nach und ignorierte ihn gekonnt
seit Beginn ihrer Fahrt.
„Wie lange willst du denn noch
sauer auf mich sein? Hätte ich nicht so nachgehakt, dann wüssten wir jetzt
nicht, woher wir wirklich stammen und das unser Vater vielleicht noch am Leben
ist.“
Julia seufzte verärgert und ließ
sich zuletzt dich auf seine Diskussion ein: „Du willst es wohl nicht verstehen.
Du hast mir diese Entscheidung aufgezwungen. Vielleicht will ich ja gar nicht nach unserem Vater suchen.
Vielleicht ist er ja ein Mistkerl und tut uns mit seiner Ignoranz nur weh. Oder
hat er je versucht, uns ausfindig zu machen?“
„Du hättest ja nicht mitkommen
müssen.“
„Als wenn ich dich Einfaltspinsel
allein in die Slowakei reisen lasse.“
„Was soll denn das heißen? Ich bin
schließlich der ältere von uns beiden, als werd ich auch ganz gut auf mich
aufpassen können.“
„Richtig“, lachte Julia ihn aus,
„und dass du ohne mich fast aus dem Internat gepflogen wärst, ist ja auch der
beste Beweis dafür. Hättest du keine musterhafte Schwester, die eine begründete
Erklärung für unsere kurzfristige Selbstfindungstour parat hatte, dann wärst du
nach deinem starrsinnigen Auftritt ein für alle Mal rausgeflogen.“
„Ach, du immer mit deinen Ängsten.
Die würde mich schon nicht rauswerfen. Ich hab ja auch nur klar gemacht, dass
ich mich nicht aufhalten lasse.“
„Und genau diese Einstellung
bringt dich irgendwann noch um Kopf und Kragen.“
Rick winkte ihre Prophezeiung nur
ab und wendete den Kopf zum Fenster, die vorbeirauschenden Szenerien
betrachtend.
Sie schwiegen sich wieder eine
ganze Weile lang an, bis Julia diese bedrückende Stimmung nicht mehr aushielt.
„Ich finde es ja schon gut, dass wir mehr über unsere Wurzeln in Erfahrung
bringen. Es ist nur etwas beängstigend, nicht zu wissen, wie das Dorf reagieren
wird. Wir haben keine Ahnung, ob unsere Mutter ihnen von uns erzählt hat.“
„Das geht mir doch genauso. Aber
wenn wir der Sache nicht auf den Grund gehen, dann erfahren wir es nie.
Außerdem interessiert mich, wieso sie damals einfach abgehauen ist.“
„Das wundert mich auch. Es muss
schon etwas wirklich Schlimmes passiert sein, dass sie ihrer ganzen Familie den
Rücken gekehrt hat. Ich hoffe nur, dass unser Vater nicht der Grund für ihre
Flucht war.“
„Der Pastor meinte, wir wären
eventuell nicht glücklich über das, was wir herausfinden. Das hört sich fast so
an, als hätte unsere Mutter etwas Schreckliches angestellt. Deswegen wohl auch
die Heimlichtuerei von ihr und die
niederträchtigen Gerüchte.“
Julia machte bei dem Gedanken ein
wehleidiges Gesicht. „Oh, ich hoffe doch nicht. Ich möchte nicht daran denken,
dass sie eine furchtbare Person gewesen ist.“
„Wie auch immer, in drei bis vier
Stunden sind wir in dem Dorf und wissen vielleicht schon mehr.“
4
Das Dorf, in dem ihre Mutter
aufgewachsen war, konnte sich in den letzten 40 Jahren nicht groß verändert
haben. Es gab zwar Strom, das erkannten sie an den Masten, die sich in der
Abendröte des idyllischen Fleckchens aneinanderreihten, aber ansonsten wirkten
Häuser und Straßen mittelalterlich. Ein kleiner, steiniger Bach grenzte das
Zentrum von einem umliegenden Wald zur Nordseite hinaus ab, wohingegen sich im
Süden weite Felder und farbenfrohe, lebendige Wiesen ausbreiteten.
Von dem Berg, von wo aus sie diese
fantastische Aussicht auf das Dorf hatten, schritten sie den Weg hinab auf das
Bächlein zu, überquerten eine schmale Steinbrücke und betraten einen Ort der
Vergangenheit, was sowohl einer persönlichen, als auch einer geschichtlichen
Zeitreise nahe kam. Verschieden Leute tummelten sich auf der breiten Straße,
die in den Dorfkern führte, beschäftigt mit den abschließenden Vorbereitungen für
den hereinbrechenden Abend. Wegen der geraden Straßenführung und der daraus
resultierenden ausladenden Sicht konnten sie entfernt einen altertümlichen
Brunnen mit hölzerner Kurbelachse ausmachen, an dem sich ein paar Frauen Wasser
in ihre Holzkrüge füllten. Die Zwillinge gingen langsam die Straße hinauf, auf
den runden Platz zu, in dessen Zentrum der Brunnen stand.
„Das ist es also“, meinte Rick
ehrfürchtig. „Hier müssten wir mit so einigen Verwandt sein.“
Julia schluckte zustimmend. Nach
all den Jahren, die sie sich gefragt hatten, wo sie herkamen, wo sie wirklich
hingehörten, waren sie nun an dem Ort, der alle Antwort enthalten musste. Die
bloße Präsenz auf diesen unveränderten Straßen, ließ sie die Gegenwart ihrer
Mutter spüren, als folgten sie ihren lautlosen Schritten in dem sandigen Boden.
Ohne sich verständigen zu müssen, wussten beide, dass der andere dasselbe
fühlte. Diese surreale Reise beeinflusste auch ihre Bindung, stärkte sie aufs
Neue, verband sie noch stärker als je zuvor. Sie waren eine Einheit in dieser
zeitlosen Welt.
Mit wachsender Begeisterung, aber
auch erregender Unruhe und zitternden Händen, schritten sie langsam durch den
Wirrwarr an Arbeiten. Die Verkäufer der verschiedensten Läden an den
Straßenseiten waren stark beschäftigt. Entlang der Steinhäuser räumten sie bis
hin zum Marktplatz ihre Stände zusammen, falteten die Stoffdächer der Stände
zusammen, Gehilfen stapelten Kisten, andere verstauten Tische in Karren, viele
Frauen achteten sorgsam auf die kostbare Güter und luden alles in sichere
Kartons. Lautstark unterhielten sie sich dabei über die ganze Straße hinweg,
plauderten über das tägliche Geschehen, baten um Hilfe oder verabredeten sich
für den Feierabend. Die beiden Fremdlinge fielen in dem Getümmel überhaupt
nicht auf, was Julia aber auch ihrer Ähnlichkeit zu den Einwohnern zuschrieb.
Die gleichen bräunlichen Haare, dieselben harten Gesichtszüge, mit gleichzeitig
ovalen Gesichtern und stark ausgeprägtem Kinn. Bei einigen erkannte sie sogar
die nervige Hakennase, die ihr und ihrem Bruder zu Eigen waren.
Plötzlich riss sie ein Aufschrei
aus ihrer sinnlichen Trance. Im Handumdrehen rannten sie vor Schreck nach
links, an den Rand zwischen zwei Ständen, wo Holzarbeiten und Eisenwerkzeuge
angepriesen wurden. Gerade rechtzeitig, so erkannten sie sich verkrampft
umklammernd, da ein Karren von prachtvollen Pferden gezogen an ihnen
vorbeirauschte und seinen Weg unaufhaltsam einforderte. Der Fahrer, welcher
ihnen wahrscheinlich zugerufen hatte, warf ihnen einen auf dem polterndem Gefährt
einen fassungslosen, kopfschüttelnden Blick zu. Julia schämte sich für ihre
Unachtsamkeit. Vor lauter gefühlsintensiven eindrücken und neugierigen Blicken
war ihnen das Scheppern der Kisten und das Klirren der Flaschen von der
Ladefläche nicht aufgefallen.
Rick zog sie grob weiter. Die
Reaktion des Führers verärgerte ihn. Etwas mehr Höflichkeit könnte man seiner
Meinung nach schon an den Tag legen. Julia bemerkte als erste, dass auf dem
Boden in der Mitte der Straße eine kleine Schatulle lag, die zuvor noch nicht
dagewesen ist. Sofort begriff sie, dass sie durch das Schaukeln auf dem Karren
heruntergefallen sein musste, also sprang sie darauf zu, griff es mit einer
Hand und rannte dem Karren hinterher. Die Schachtel war aus Metall und ziemlich
schwer, außerdem klapperten beim Rennen eindeutig unzählige Münzen im Innern,
doch das beachtet Julia nicht im Geringsten. Laut rufend lief sie so schnell
sie mit dem Gewicht in beiden Händen konnte. „Entschuldigung. Hallo! Sie haben
etwas verloren. Hey!!!“
Der Karren war zu weit entfernt,
schon fast in der Nähe des Brunnes, doch sie gab nicht auf. Entschlossen eilte
sie die Straße hoch, Rick dicht hinter ihr. Doch keine 50 Meter weiter, fiel
ihnen beiden das Laufen ungewöhnlich schwer, da ihre Rucksäcke sie ungemein behinderten.
Julia versuchte noch durch Rufen etwas zu erreichen, doch ihre Stimme versagte
bereits. Mühselig schleppten sie sich voran, da blieb Rick abrupt stehen,
atmete zweimal mit voller Kapazität ein und schrie in brünstig über die gesamte
Marktstraße hinweg.
Auch das schien erfolglos gewesen
zu sein. Der Fahrer dreht sich nicht um, konzentrierte sich einzig auf die
Führung der Pferde. Viele Standhändler bemerkten die Geschwister nun, doch
standen sie nur verwundert da und beobachteten das komische Schauspiel. Dann
sah Julia, die sich noch immer angestrengt vorwärts kämpfte, wie ein Mann von
seinem Stand in die Mitte der Straße lief und sich vor die Pferde stellte,
dabei mit den Armen Aufmerksamkeit verlangend. Der Karren wurde langsamer und
blieb vor dem Helfer stehen. Mit einem Satz war der Fahrer auf dem staubigen
Boden und unterhielt sich mit dem Händler, als dieser auf das keuchende Mädchen
zeigte, das jetzt fast ihre Höhe erreicht hatte. Der Fahrer drehte sich um und
stemmte die Hände in die Hüften.
„Sie… sie haben das… verloren.“,
keuchte Julia und streckte die Hände mit dem Kästchen aus.
Die Augen des Mannes weiteten
sich, wobei seine Arme und Beine gleichzeitig erschlafften. Er nahm ihr das
Kästchen ab und wirkte mit einem Mal äußerst verwirrt. Dem finsteren Blick wich
ein freundliches Lächeln, das vor Dankbarkeit strahlte. „Vielen Dank,
Dankeschön.“ Er betrachtet fassungslos die Schatulle und fuhr mit einer Hand
über den Deckel. „Es tut mir leid, dass ich euch fast umgefahren hätte. Ich
habe es sehr eilig. Meine Frau wartet mit Eierkuchen zu Hause.“
Rick kam gerade an und begrüßte
den Herrn schwer atmend. „Sie sprechen ja Deutsch“, bemerkte er verblüfft.
„Ja, sicher. Fast alle hier
sprechen Deutsch. Viele Deutsche haben im 2. Weltkrieg hier Zuflucht gesucht
und sich niedergelassen. Die Verbundenheit zu Deutschland besteht aber bis
heute.“
„Vielleicht können sie uns
weiterhelfen“, sagte Julia, doch der man Schnitt ihr das Wort ab.
„Es tut mir leid, aber ich muss
mich wirklich beeilen. Meine Frau, wisst ihr.“ Er betrachtet nochmal das
Kästchen und fügte dann hinzu. „Aber warum kommt ihr nicht mit. Ohne euch wäre
ich jetzt all mein Geld los. Deutsche sind uns immer willkommen.“
Die beiden überlegten nicht lange,
denn müde vom Wandern und ausgehungert konnten sie sich nichts Besseres
vorstellen, als bei einer netten Familie Eierkuchen zum Abendbrot zu essen.
Das Haus der Woyczecks lag am
äußeren Rand des Dorfes und bestand wie neunzig Prozent der zeitfremden Gebäude
aus purem Stein ohne verschönendem Putz oder warmhaltenden Isolierungen. Auf
dem Dach fehlten einige Ziegel, dessen Stellen mit Stroh ausgefüllt waren, aber
ansonsten sah es ganz gemütlich aus. Reichtum zeigte das Anwesen mit keinem
Bisschen, aber der Garten bezauberte einen auf den ersten Blick. Bis in Detail
geplant und äußerst gepflegt, reihten sich Tulpen, Rosen und Lilien aneinander,
gefolgt von Gemüseplantagen und vereinzelten Obstbäumen, an dessen Wurzeln kaum
heruntergefallene Früchte lagen. Der Rasen war sauber, dicht und dem Anschein
nach leuchtend grün. Im Licht der fast untergegangenen Sonne hatte die Umgebung
des Hauses etwas Magisches wie im Paradies, das Julia faszinierte. Gott, so
glaubte sie, musste diesen Ort mit übermäßiger Güte betrachten, wenn er hier so
etwas ergreifend Schönes entstehen ließ. Dass ihre Mutter hier je wegwollte,
kann sie mit jeder Minute weniger verstehen.
Rick nahm den Garten nur mit einem
unwürdigen Blinzeln war und folgte stattdessen Herrn Woyczeck ins Haus, durch
eine hölzerne, unlackierte Tür, die beim Öffnen gruselig knarrte.
„Fühlt euch ganz Daheim“, forderte
ihr Begleiter sie freudig auf und huschte sogleich in ein Nebenzimmer, wo er
mit seiner Frau ein wortreiches Gespräch auf Slowenisch abhielt. Schließlich
kam eine schlanke Frau mit rotbraunen, schulterlangen Haaren in den
Eingangsbereich, um sie zu begrüßen. Überschwänglich umarmte sie die beiden und
sagte: „Hallo, ihr seid aus Deutschland? Wie schön. Kommt herein, es gibt neue
Eierkuchen und eigengemachte Marmelade.“ Ihr Deutsch war nicht so perfekt wie
das ihres Mannes, doch der starke Akzent störte die Zwillinge nicht im
Geringsten.
Froh, endlich an einem Tisch zu
sitzen und den Duft der frischen Pfannkuchen, wie sie erkennen mussten, nicht
Eierkuchen, zu genießen, plauderten sie ausgiebig mit ihren Gastgebern.
„Viele, viele Dank, dass ihr meine
Mann geholfen habt. Er verliert oft Sachen.“ Von der Pfanne in ihrer Hand glitt
ein neuer Fladen auf den Teller in der Mitte des Tisches, dabei warf sie ihrem
Mann einen scharfen Blick zu, der sogar Rick inmitten einer umständlichen
Diskussion zum Schweigen bringen könnte.
Der runde Tisch war für fünf
gedeckt, doch der letzte Platz blieb unbesetzt. Dennoch begannen sie zu essen,
damit die Pfannkuchen nicht erkalteten. Mit köstlicher Marmelade bestrichen,
mit himmlischen Apfelmus gefüllt oder gar mit deutsche Nussnugatcreme genossen
die vier das Mal.
„So, und was führt euch in die
Slowakei?“, wollte Frau Woyczeck wissen, während sie genüsslich ihren
Pfannkuchen vorbereitete. „Macht ihr Urlaub? Oder besucht ihr Verwandte?“
Rick wollte gerade antworten, als
ein stattlicher Junge in ihrem Alter die Küche betrat. Er war blond, unüblich
für diese Gegend, und hatte ein schmales, knochiges Gesicht, azurblaue,
funkelnde Augen, die Rick förmlich anstrahlten, und eine muskulöse Figur, die
darauf schließen ließ, dass er ab und an trainierte. Julia begrüßte den Sohn
der Familie erfreut, als er von Herrn Woyczeck vorgestellt wurde. Rick jedoch
hatte es leicht die Sprache verschlagen, dabei konnte er sich den Grund dafür
nicht erklären. Sein Mund stand ihn zwar nicht mehr offen, wie beim ersten
Anblick des Jungen, doch fühlte er sich mit seiner Präsenz unbehaglich. Ein unbekanntes Gefühl breitet
sich ringsum in seinem ganzen Körper aus und machte seine Hände und Beine halb
taub. Schüchtern hielt er den Kopf gesenkt, darauf bedacht den anderen nicht
anzusehen, doch er konnte nicht umhin, immer wieder zu seinem Gegenüber
aufzuschauen. Merkwürdigerweise schien der Sohn ihn immer dann ebenfalls
anzusehen, so dass sich ihre Blicke trafen. Das verursachte jedes Mal ein
explodierendes Feuerwerk in ihm. Mit Mühe unterdrückte er sein durch herzrasen
ausgelöstes Zittern und vermied so, in Panik wegzulaufen. Andernfalls wäre er
wie wild aufgesprungen und aus der Küche gestürmt. Und dann auch noch dieses
merkwürdige Lächeln, das der Typ an den Tag legte, wen er ihn ansah.
„Ihr wolltet gerade von eurer
Reise erzählen.“, erinnerte Herr Woyczeck sie und biss zufrieden von einem
Pfannkuchen mit Apfelmus ab.
Die drei erwarteten gespannt, dass
Rick wieder zu erzählen begann, doch als er das nicht tat, fing Julia mit der
Ausführung an. Zuvor warf sie ihrem Bruder aber noch einen besorgten Blick zu
und wunderte sich über seine veränderte Verfassung. Den verstummten Bruder
kurzzeitig aus ihren Gedanken verbannend, berichtete sie von dem Internat, in
dem sie lebten, weil ihre Mutter vor 16 Jahren gestorben ist. Sie erzählte
ihnen, dass sie erst vor kurzem erfahren hatten, dass ihre Mutter aus diesem
Dorf stammte und aus fragwürdigen Gründen nach Deutschland gegangen ist, und
sie nun versuchten, Näheres herauszufinden.
Den Zwillingen entging nicht, dass
die Atmosphäre in dem Raum merkwürdig kalt und dunkel geworden war. Als hätte
jemand das Licht gedimmt und alle Anwesenden mit einem Fluch belegt, war die
Stimmung bedrückend und engte einen innerlich extrem ein. Es lag etwas
Unbestimmbares in der Luft, was Ricks Aufmerksamkeit kurz völlig von dem Jungen
ablenkte. Niemand machte sich noch an den bestückten Tellern zu schaffen, kein
Kauen und auch kein Klappern war zu hören. Eine düstere Stille hatte sich auf
das Haus gelegt, dass nur von zirpenden Grillen unterbrochen wurde. Nervös
starrten die beiden in die finsteren Mienen der älteren Woyczecks.
Dann, als würde sie die Antwort
schon kennen, fragte Fr. Woyczeck widerwillig: „Eure Mutter hieß Hanne, nicht
wahr?“
Die Zwillinge nickten besorgt, die
Augen gebannt auf die Woyczecks gerichtet.
„Und was hatte sie gemacht genau,
als sie nach Deutschland verschwunden ist?“
„Das wissen wir leider auch nicht
genau“, antwortete Julia leise. „Man hat uns nur gesagt, sie sei sehr
mitgenommen gewesen und hätte in unserer Gemeinde um Hilfe gebeten. Sie soll
jeden Tag gebetet haben, aber ansonsten war sie sehr zurückgezogen und hat mit
uns kaum das Zimmer verlassen. Keiner wusste wirklich, was mit ihr war.“
„Kennt ihr sie denn?“, wollte Rick
wissen, nachdem die beiden Woyczecks sich eindeutige Blicke zugeworfen hatten,
die nichts Gutes verhießen. Nebenbei erhaschte er einen Blick auf den Jungen,
obwohl seine Konzentration jetzt ganz bei der Sache war. Er war so unwissend
wie sie selbst, doch strahlte er immer noch eine ungeheure Macht über ihn aus,
was er sich nicht erklären konnte.
Die alte Frau legte ihre Stirn
noch mehr in Falten und seufzte schwerfällig. „Ja... ja, ich kenne sie. Um
ehrlich zu sein, war sie meine Schwester.“
Ein heftiger Schlag traf die
Zwillinge ins Gesicht. Wie ein entfachtes Feuer brodelte das Wasser plötzlich
in ihren Adern, bis die Erkenntnis dieser Aussage ganz und gar in ihr Fleisch
eingebrannt war.
„Aber dann…“, stotterte Rick.
„Dann sind sie ja unsere Tante.“
„So ist es wohl.“, sagte sie
betrübt.
Julia und Rick hatten einen Anflug
von grenzenloser Freude in sich, da sie endlich eine Familie gefunden hatten.
Eine lebende Verwandte vor sich war für sie unvorstellbar, aber auch unfassbar
schön. Ungläubig hielt Rick sich vor Augen, wie viel Glück sie gehabt hatten,
gerade bei dieser Familie zum Pfannkuchen Essen eingeladen worden zu sein.
„Ihr müsst jetzt leider gehen.“
Mit dieser Aussage von Herrn Woyczeck zerplatzte der Traum der beiden und die
Realität holte sie wieder ein. Der forsche Unterton, mit der er das sagte war
unmissverständlich, und die angespannte Miene eindeutig. Doch verstanden die
beiden nicht, was da gerade vor sich
ging.
Frau Woyczeck sprang wie von einer
Biene gestochen auf, nahm sich die Teller der beiden Besucher und drehte sich
zu der Waschzeile um, um mit dem Spülen zu beginnen.
Sanftmütig versuchte Julia die
Situation aufzuklären. „Es tut uns leid, wenn wir sie ein wenig bedrängt haben.
Wir wussten nicht, dass wir gerade bei ihnen gelandet sind.“
„Bitte, geht einfach.“, hackte der
Herr nach und erhob sich.
Rick war entschlossen, sich nicht
so leicht abwimmeln zu lassen. Jetzt, wo er seine Tante gefunden hatte, wollte
er auch antworten haben und eher würde er nicht gehen. „Ich gehe erst, wenn sie
uns sagen, weshalb unsere Mutter von hier fortgegangen ist. Was ist damals
passiert?“
„Bitte, geht einfach. Ihr seid
hier nicht länger willkommen“, hörten sie vom Waschbecken her, gefolgt von
einem unterdrückten Schluchzer.
„Warum schicken sie uns weg? Sie
wissen jetzt, wer wir sind, bedeutet das ihnen gar nichts? Ich bleibe und sie
kriegen mich nicht weg, bevor sie nicht geantwortet haben.“ Mit verschränkten
Armen lehnte er sich entschlossen zurück.
Frau Woyczeck, den Rücken zum
Tisch gedreht, ließ nun die Schultern schlaff herabhängen, die Hände voller
Schaum im Waschbecken liegend, den Kopf gesenkt. Ihr Mann stand hinter seinem
Stuhl und hatte die Lehne fest umklammert, den Kopf seiner Frau zugewandt. Ihr
Sohn sah verwirrt zwischen den beiden hin und her, anscheinend verstand er ihre
Reaktion genauso wenig, wie seine Sitznachbarn.
Frau Woyczeck nahm sich nun ein
Handtuch, trocknete ihre Hände ab, lehnte sich dann mit einer Hand auf die
Küchenzeile und fuhr mit der anderen über ihr Gesicht. Nachdem sie sich kurz
mit Daumen und Zeigefinger die Augen rieb, sagte sie kleinlaut: „Warum müsst
ihr das alle wieder hochholen? Warum jetzt?“
„Bitte“, flehte Julia einfühlend,
„wir wollen doch nur etwas über unsere Vergangenheit erfahren.“
Es herrschte für kurze Zeit
Stille, doch kam es ihnen so vor wie Stunden. Sie warteten auf eine Reaktion,
alle Augen erwartungsvoll auf Frau Woyczeck geheftet. Doch stattdessen sprach
der Sohn, aber nicht zu den Zwillingen, sondern an seine Mutter gerichtet, in
ihrer eigenen Sprache, so dass die beiden nichts verstanden. Rick war
fasziniert von seinen Worten und dachte etwas Bittendes aus ihnen heraushören
zu können. Wie klassische Musik hallten die Worte in seinen Ohren wieder,
beruhigten ihn auf unglaubwürdige Weise. Dann warf ihn Frau Woyczeck wieder aus
dem Land der Melodien und forderte seine ganze Konzentration ein.
„Du hast vielleicht Recht, Toni.“
Sie ließ sich kurz Zeit, holte tief Luft und erzählte, ohne sich umzudrehen,
von dem, was sich vor 18 Jahren zugetragen hatte. „Damals stand ich kurz bevor
meine Hochzeit. Mit meine Jugendliebe. Wir warten kaum älter als ihr, aber da
wir fünf Jahre verliebt waren und uns eine Familie sehnlichst wünschten, planten
wir riesige Hochzeit. Monate war das ganze Dorf beschäftigt mit Vorbereitungen.
Der Tag kam heran und der Stress wurde immer größer, da stritten meine
Verlobter und ich uns fürchterlich. Er ging weg und schlief nicht zu Hause. Ich
beruhigte mich und wollte die Sache klären. Also suchte ich ihn in der Gegend,
doch er war nirgendwo. Ich war sehr verzweifelt und ging zu meiner Schwester.
Sie sollte mich trösten. Ich dachte sie schlief, da Haus alles dunkel. Deswegen
ging ich zu ihrem Schlafzimmer. Es war das schlimmste, was ich je gemacht.“ Sie
schluchzte nun heftig und unterbrach ab und zu ihre Geschichte. „Sie schlief,
ganz ruhig und mein Verlobter lag neben ihr… ich wurde ganz wild und verfluchte
sie und ihn. Sofort rannte ich nach Hause. Seine Sachen warf ich aus dem
Fenster und dann ließ ich niemanden mehr herein. Eine Woche sah ich keinen
Menschen. Nur Slavek rettete mich. Er hat mir Sinn im Leben gegeben.“ Sie
drehte sich nun um, um lächelte ihren Mann mit tränenverschmiertem Gesicht an.
Ihre rot glühenden Augen ruhten auf ihm und erfüllten jeden Zuschauer mit
Liebe.
Doch Rick kümmerte das Leid seiner
Tante wenig. Er war verstört und glaubt nicht, dass seine eigene Mutter so
etwas getan hatte. „Deshalb hat Mutter also das Dorf verlassen.“, sagte er mehr
zu sich als zu den anderen.
Die Miene ihrer Tante wurde wieder
ernst, doch es spiegelte sich keine Wut mehr in ihren Augen wieder, sondern
bittere Traurigkeit und Schmerz. „Ich hörte das erst, als ich aus dem Haus kam.
Alle wussten dann von der Affäre eurer Mutter. Wie eine Verführerin wurde sie
bestraft. Mit Fackeln und Eimern mit Schlamm hat man sie aus dem Dorf gejagt.
Die Leute machten sie verantwortlich für alles. Dass meine Verlobung kaputt
gegangen ist und alles. Sie hatte immer viele Reize gespielt, das war nicht
gut.“
„Soll das heißen, sie war eine
Schlampe?“, fragte Rick direkt und sprang furchtbar wütend auf. Seine drohende
Haltung machte selbst Julia Angst.
„Nein, sie war keine Sowas. Aber
sie hat Schlimmes gemacht. Und ich konnte ihr erst nach langer, langer Zeit
vergeben. Leider habe ich sie nicht mehr gesehen. Und jetzt weiße ich auch,
warum. Gott hat sie geholt, sie bestraft. Gerecht ist er, aber es tut mir auch
leid. Besonders für euch.“
„Wie können Sie so etwas sagen“,
warf Julia ihr aufgebracht entgegen. „Sie hat einen Fehler begangen und
gesündigt, aber sie hat doch nicht den Tod verdient. Und ihre Ehe hat sie auch
nicht zerstört, das hätte anscheinend eh nicht funktioniert.“
Das Mitleid in den Augen von Frau
Woyczeck verschwand innerhalb von Millisekunden und machte einem furiosem
Schimmer Platz, der so urplötzlich kam, dass Julia auf ihrem Stuhl zurückwich.
Sie hatte einen eingeklemmten Nerv erwischt, auf eine wunde Stelle gedrückt und
das verhieß nichts Gutes. „Raus! Verschwindet. Ihr seid hier nicht mehr
willkommen, ihr Bastarde. Aus verlogener Affäre seid ihr gemacht, das will ich
nicht in mein Haus. Geht!“
Julia und Rick ließen sich das
nicht zweimal sagen. Ihre aufgestaute Wut über das gehörte trieb sie sowieso an
die frische Luft. Doch auch das scharfe Brotmesser, das aus dem Nichts in Frau
Woyczecks Hand aufgetaucht war, veranlasste sie zur Eile. Mit weiten Sätzen
liefen sie zur Tür hinaus in das Dunkel der heran gebrochenen Nacht, ihre
Rucksäcke im Vorbeigehen über die Schultern geworfen und die Köpfe voller
unschöner Gedanken. Julia hatte dabei arge Probleme, mit ihrem Bruder
schrittzuhalten. Er rannte nicht, legte aber ein stattliches Tempo hin, um
seine überschwellende Energie loszuwerden.
„Wo willst du denn hin? Die Stadt
liegt in der anderen Richtung.“
Abrupt blieb er stehen. „Lass uns
nach Hause gehen. Hier hat man unsere Mutter wie Dreck behandelt, hier möchte
ich keine Sekunde länger bleiben.“
„Gut, dann lass uns zum Bahnhof
gehen.“ Sie sah ihm besorgt hinterher, als er schnurstracks zur Stadt lief und
sie dabei nicht beachtete. Mit bangen hoffte sie, dass er den Rat des Pastors
beherzigen und mit angemessener Reife die Ergebnisse ihrer Suche verarbeiten
würde.
5
Auf der Zugfahrt nach Hause
redeten sie kaum miteinander. Beide dachten über die letzte Nacht nach, über
das Gehörte, den Besuch bei ihrer Tante und ihren furchtbaren Wutausbruch. Wie
Rick es gewollt hatte, war nun ein wenig Klarheit in das Mysterium ihrer Mutter
gekommen, doch war es schwer mit diesem Wissen umzugehen. Julia verfluchte sich
insgeheim, dass sie dem Bitten ihres Bruders nachgekommen war. Hätte sie sich
ihm in den Weg gestellt, dann wäre er war wütend auf sie gewesen, würde jetzt
aber nicht so verbittert und in sich gekehrt auf der Bank ihr gegenüber sitzen.
Sie wollte ihm so gerne nahe sein, ihm beistehen. Doch er war eiskalt und
abweisend und starrte nur unendlich lange in die Leere außerhalb des Wagons.
Sie selber hatte sich innerlich
auf genau diese Art von Offenbarung eingestellt. Der Pastor hätte es nicht
umsonst angedeutet. Es schmerzte sie, dass ihre eigene Mutter diese Tat
begangen hatte, doch war sie nicht so naiv, zu glauben, dass Mütter unfehlbar
sein müssten. Sie waren auch nur Menschen und das wahre Ich ihrer Mutter würde
sie wohl nie dargelegt kriegen. Wenn Rick das nur verstehen könnte.
Die Suche nach ihrem Vater war mit
dieser Geschichte auch beendet. Rick wünschte ihm nur das Schlechteste an den
Hals, da er ihrer Mutter all das angetan hatte. Die ganze Schmach und das Leid,
das sie bis zu ihrem Tode begleitet hatte. Auch Julia wünschte nicht, ihm
jemals zu begegnen. In ihren Augen war er es, der den Ehebruch begangen hatte
und er sollte sich schämen. Und dann ließ er ihre Mutter auch noch von dem Dorf
davonjagen, wie ein durchgedrehtes Tier, das für jedermann gefährlich werden
konnte.
Darin waren sich beide einig und
so schleppten sie ihre Rucksäcke schwermütig zurück in das Internat, wo sie dem
Alltag des Lernens und Betens wieder ins Auge sehen musste. Nur wenigen
erzählten sie von dieser Reise und auch in den kommenden Jahren redeten sie nur
in Ausnahmefällen über ihre Mutter. Es wurde zu einem Tabu-Thema. Vielleicht
weil diese Erfahrung sie beide verändert hatte, aber vielleicht auch, weil die
Erinnerung daran zu schmerzhaft war.
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